Wagner und die Hessen
Wolfgang Gerhardts eigener Landesverband war es, der den Parteichef Anfang des Jahres arg in Bedrängnis brachte. Hessens Ministerpräsident Koch hatte in der Spendenaffäre der CDU Daten manipuliert, bewusst einen falschen Rechenschaftsbericht abgeliefert und dann auch noch wochenlang als "brutalstmöglicher Aufklärer" seine eigenen Fehler vertuscht, statt sie aufzudecken. Das Ende der Koalition mit den Liberalen schien besiegelt. Und doch gelang es der zuvor noch wild zum Koalitionsbruch entschlossenen FDP auf dem Absatz kehrt zu machen und Koch den Rücken zu stärken. Die machtbesessene hessische Landesvorsitzende Ruth Wagner ließ ihren Parteichef Gerhardt ins Leere laufen und widerstand allen Appellen, aus der Regierung auszutreten. Gerhardt blieb nur der Rückzug in die Parteizentrale nach Berlin und die resignierende Feststellung, er sei eben "doch nur der Bundesvorsitzende".
Mit seiner Niederlage auf dem Sonderparteitag der hessischen Liberalen Anfang März leitete der zuvor so farblos wirkende Oberliberale jedoch die Wende in der öffentlichen Meinung ein. Endlich hatte die FDP ihre Chance, aus dem Schatten der Christdemokraten hervorzutreten, ja gar von ihrem Niedergang zu profitieren. Nach Monaten der Selbstbeschäftigung konzentrierte sich die FDP nun wieder auf eigene Themen und Kampagnen.
Doch neuer Ärger ließ nicht lange auf sich warten. Gestärkt durch ihre Wahlerfolge bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen meldeten sich nun Wolfgang Kubicki und Jürgen Möllemann wieder zu Wort und zettelten so eine neue Führungsdiskussion bei den Liberalen an.
Den Anstoß dazu gab jedoch wieder einmal Wolfgang Gerhardt selbst. Ende Mai erklärte er, es müsse in der FDP nicht eine Person alle Ämter innehaben. Obgleich er der einzige Liberale mit "Doppelbelastung" – so Möllemann – ist, fügte er dennoch hinzu, dass er an seinen beiden Ämtern festhalte. Der Grundstein für eine neuerliche Personaldebatte war gelegt. Aus Kiel kam auch postwendend die Antwort. Gerhardt habe sich selbst "zur lahmen Ente erklärt", so Kubicki, seine Ablehnung einer Koalition mit der SPD sei "zwanghaft neurotisch".
Parteitag in Nürnberg
Nach dem von vorneherein zum Scheitern verurteilten Angriff der Jungen Liberalen, eine Trennung von Fraktions- und Parteivorsitz per Antrag durchzusetzen, kam es auf dem Nürnberger Parteitag der Liberalen Mitte Juni zu einem ersten Schaulaufen um die künftige Führung der Partei.
Dabei muss man der FDP zugestehen, es wie keine andere Partei zu verstehen, die rasanten Veränderungen der Gesellschaft durch die Globalisierung und den Wandel zur Informationsgesellschaft aufzunehmen. Zwar verzichten die Liberalen dabei auf eine eigene Ideologie oder gar ein Programm, doch Jürgen Möllemann hat bei seiner Kampagne in NRW gezeigt, dass es auch ohne geht. Hier konnte das Stehaufmännchen der deutschen Politik eindrucksvoll beweisen, wie wichtig der richtige Umgang mit den Medien ist. Sein Optimismus, die Partei nicht nur wieder in den Landtag zu bringen, sondern auch noch ein Ergebnis von 8% zu erreichen, sprach die Wähler an – wie einst die Medienkampagne Schröders im Sommer 1998. Und so erreichte Möllemann mit viel Psychologie und teuren Marktstudien sein Traumergebnis von knapp 10%, ohne dass dadurch jedoch der erhoffte Koalitionswechsel stattfinden konnte.
Und so trat Jürgen W. Möllemann dann auch ans Rednerpult in Nürnberg. Mit einer Mischung aus wiedererstarktem Selbstbewusstsein und realitätsferner Überheblichkeit. Doch sein Auftritt saß. Während Parteichef Gerhardt eine für seine Verhältnisse eindrucksvolle Rede ablieferte und seinen Anspruch auf den Vorsitz auch für die Zeit nach den nächsten Wahlen im Jahr 2001 bekräftigte, kritzelte der Münsteraner noch in seinem Manuskript herum. Schließlich schien er die ihm passenden Worte gefunden zu haben und rief die Volkspartei FDP aus, die bei den nächsten Bundestagswahlen 18% erreichen werde. Eine starke Mannschaft brauche man dafür, so Möllemann, und – als Partei, die mit SPD und CDU auf gleicher Augenhöhe steht – "einen eigenen Kanzlerkandidaten". Kein Zweifel, dass er sich dabei selbst für die geeignete Person hält. Und dass es Möllemann ernst meint mit der Führungsdebatte, hat er auch schon klar ausgesprochen: "Die Projekt-18-Kampgane muss jetzt beginnen, nicht erst sechs Wochen vor der Bundestagswahl."
Doch noch scheint es nicht so weit zu sein und so lag es am gerade 38-jährigen Generalsekretär Guido Westerwelle, den Bogen zwischen den verschiedenen Positionen zu spannen. Er sprach, nach einem Wechsel in der Sozialpolitik und den Leitanträgen zu mehr Bürgerbeteiligung und einer direkteren Demokratie, gar von einer "Zäsur" in der Geschichte der Liberalen. Jetzt, so Westerwelle, "ist der Zeitgeist auf unserer Seite". Gleichzeitig machte er seinen Anspruch auf die Parteiführung deutlich, auch wenn er im Moment noch Zurückhaltung übt.
Quo vadis, FDP?
Der Parteitag in Nürnberg hat die Führungsdebatte bei den Liberalen nicht beendet, sondern nur verschoben. Wolfgang Gerhardt weiß, dass er es auf Dauer schwer haben wird, Möllemann und Westerwelle zu widerstehen. Sollte sich Möllemann mit seiner Forderung nach einem neuen Team zur Durchsetzung seines "Projekts 18" – so unrealistisch dieses Ziel für die FDP auch sein mag – Gehör verschaffen, wird der Aktenträger Gerhardt kaum Unterstützung für seine zurückhaltende Position finden. Anfang nächsten Jahres stehen Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz an. Bis dahin muss die Partei, will sie bestehen, nicht nur ihr eigenes Profil schärfen, sondern auch Ruhe einkehren lassen. Vielleicht kommt der auf dem Parteitag beschlossene Politikwechsel für die FDP gerade noch rechtzeitig. Das Gewitter ist an der Parteiführung diesmal vorübergezogen, doch das Donnergrollen im Hintergrund bleibt.
© Jörg Steinhaus 2000
erschienen in Kronos. Nr. 7. Juli 2000. Titel. Seite 1.