Interview mit Professor Dr. Thränhardt, Universität Münster

Verschobene Reform

Von Franz Münteferings Reformvorhaben ist nach dem außerordentlichen Parteitag der NRW-SPD nicht viel übrig geblieben


Der SPD-Landesvorsitzende hat eine Menge vor in Nordrhein-Westfalen. Ein Präsidium will er der Landespartei verpassen, ebenso einen Generalsekretär. Und für den Posten hat er auch schon einen Kandidaten, den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Axel Horstmann. Müntefering will also keine Zeit verlieren. Doch der mitgliederstarke und mit einem Vetorecht ausgestattete Bezirk Westliches Westfalen machte ihm zunächst mal einen Strich durch die Rechnung. Nach Angaben Münteferings sei einzig und allein der Zeitplan der ausschlaggebende Grund für die Ablehnung gewesen. Auf dem außerordentlichen Parteitag im September war das Reformvorhaben des Landesvorsitzenden bis auf die Einsetzung einer Strukturkommission zusammengeschrumpft.

Unser Mitarbeiter Jörg Steinhaus sprach mit dem Politikwissenschaftler Professor Dr. Dietrich Thränhardt vom Lehrstuhl für vergleichende Regierungslehre und Migrationsforschung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster über das Reformvorhaben, die Parteiendemokratie und das Erscheinungsbild der heutigen SPD.

Kronos: Ist die SPD reformbedürftig, was macht sie reformbedürftig und was macht sie vielleicht auch reformbedürftiger als andere Parteien?
Thränhardt: Alle Parteien sind reformbedürftig. Die SPD vielleicht insbesondere, weil sie eine Partei mit einer sehr langen Tradition und einer sehr entwickelten Parteikultur ist, die ihre eigenen Spielregeln hat, und nicht mehr ganz in die moderne Medienwelt passt. Das ist wohl der entscheidende Punkt. Die CDU hingegen ist eine neuere Partei, die erst in den siebziger Jahren zur Massenpartei geworden ist und die Spielregeln der modernen Medienwelt von vorneherein stärker mit berücksichtigt hat. Allerdings spielt Schröder souverän mit den Medien, auch wenn es da noch eine gewisse Diskrepanz zur traditionellen SPD-Kultur gibt.

Kronos: Kann diese Diskrepanz durch Reformen, wie sie jetzt vom Generalsekretär Müntefering vorgeschlagen werden, irgendwie aufgelöst werden? Kann sich die SPD modernisieren?
Thränhardt: Die SPD verändert sich natürlich ständig. Bis in die sechziger Jahre war sie eine Partei der männlichen Facharbeiter, heute auch eine der Mittelschicht. Trotzdem bleibt sie eine Partei von Milieus, die sich oft konvertikelhaft verhalten, also sich abschließen. Intern wird sehr intensiv diskutiert, aber es gibt Schwierigkeiten, dies in die Öffentlichkeit zu tragen. Hinzu kommt, dass das Internet die gesamte Diskussionskultur verändert, was man im amerikanischen Wahlkampf gerade sehr deutlich sieht. Die SPD müsste versuchen, die Schlagkräftigkeit an der Zentrale und die Kompetenz an der Basis zu optimieren. Das ist das Spannungsverhältnis.

Kronos: In NRW wird versucht, die starken Bezirke zurückzufahren und einen Landesverband zu etablieren. Franz Müntefering ist jedoch mit diesem Vorschlag gescheitert. War die versuchte Umgestaltung einfach nur zu kurzfristig, wie behauptet, oder lag das Scheitern an den Machtstrukturen innerhalb der Partei?
Thränhardt: Das sind natürlich alte zentrale Machtstrukturen und Identitäten, die über Jahrzehnte sehr stabil und sehr geschlossen waren. Dabei haben die Bezirke das Verständnis, immer effektiv gewesen zu sein, vielleicht effektiver als die Landespartei. Von daher wollten sie sich nicht mit einem Federstrich entmachten lassen. Zunächst ist Müntefering zweifellos gescheitert. In Bayern hat eine ähnliche Reform allerdings nichts gefruchtet, obgleich die Verelendung dort schon seit Jahrzehnten da war.

Kronos: War es ein Problem, dass der Basis direkt ein Kandidat für das Amt des Generalsekretärs vorgesetzt wurde?
Thränhardt: Das scheint bestimmte Antipathien ausgelöst zu haben.

Kronos: Das Ergebnis des Parteitages war die Einsetzung einer Strukturkommission. Welche Ergebnisse kann diese Kommission planen, wenn sie sich nicht selber entmachten will?
Thränhardt: Es geht darum, politische Informationen direkt in die Welt zu setzen, auch über das Internet. Und das geht eigentlich nur an den Bezirken vorbei, weil es sonst nicht schnell genug ist. Andererseits werden die Bezirke versuchen, eine gewisse Autonomie zu behalten, was ihre Finanzen und die Mitbestimmung über Kandidatenvorschläge angeht. Ich denke, man wird sich irgendwo auf einer mittleren Linie einigen.

Kronos: Wie sieht es überhaupt mit dem Nachwuchs aus in der Partei, der geht deutlich zurück oder kommt einfach nicht nach. Mangelndes Interesse?
Thränhardt: Das ist bei allen Parteien so. In den sechziger Jahren war die SPD eine relativ junge Partei, so wie später die Grünen. Nun aber stecken beide in der Krise, auch wenn im internationalen Vergleich die deutschen Parteien sehr stabil sind. Wir haben nicht wie in Italien oder Frankreich einen Zusammenbruch dieser ganzen Parteienmilieus, aber sie sind zweifellos überaltert. Anscheinend kommt diese traditionelle Parteiarbeit den Vorstellungen von Jugendlichen nicht mehr so entgegen. Es gibt ein bestimmtes Ritual des Verhaltens, das durchaus auch seinen Sinn und immer ganz gut funktioniert hat. Dies entspricht aber eben den Erwartungen von jüngeren Leuten nicht mehr. Von daher denke ich, dass es neue Formen der Zusammenarbeit geben muss, die Dinge müssen da spritziger, schneller gemacht werden.

Kronos: Trotzdem gibt es den Vorschlag, nicht nur langjährige Parteimitglieder auf hohe Posten zu heben, sondern auch Quereinsteiger zu ermöglichen, durchaus in Verbindung mit dem Ruf nach Vorwahlen.
Thränhardt: Das ist ein Greifen nach Popularität. Es geht ja hier um bereits populäre Leute, Filmstars oder Unternehmer. Die Erfahrung zeigt aber, dass solche Leute im allgemeinen dann mit der politischen Praxis, mit der Formulierung von Politik und auch mit dem Organisieren von Mehrheiten nicht zurechtkommen. Das Training im Ortsverein und die Tätigkeit erst im Stadtrat, bevor man in den Bundestag geht, hat schon so seinen Sinn. Es gibt natürlich Ausnahmen wie den Wirtschaftsminister Müller, der zweifellos ein geborener Politiker ist.

Kronos: Junge Parteimitglieder werden automatisch auch Mitglieder bei den Jusos, die sich noch immer als linker Richtungsverband sehen. Ist das modern genug, um eine Mitte, eine junge Mitte anzusprechen?
Thränhardt: Die alten Jusos sind hoffnungslos aus der Zeit raus. Viele jüngere SPD-Mitglieder arbeiten ja gar nicht mehr bei den Jusos mit. Eigentlich war es aber schon immer so, dass dort, wo die Partei nicht so stark vertreten war, jüngere Mitglieder sofort selber mitarbeiten konnten und sich nicht in dieser Jugendkultur, in dieser Jugendorganisation ohne Verantwortung, herumtrieben.

Kronos: Die SPD schlägt vor, bei Kommunalwahlen das Kumulieren zuzulassen. Wie ist das zu bewerten? Die SPD muss sich ja einen Vorteil davon versprechen,...
Thränhardt: Kumulieren und Panaschieren geistert ja überall herum. Ich kenne das aus Bayern und in kleineren Orten ist das eine sehr schöne Sache. Da es aber die Wahlkreisstruktur auflöst, ist es für Großstädte ist es nicht so schrecklich geeignet.

Kronos: Können Sie kurz erklären, worum es dabei geht?
Thränhardt: Beim Kumulieren können Sie mehrere Stimmen vergeben, auch für einzelne Kandidaten. Das bedeutet, sie haben nicht nur eine Stimme, sondern so viele Stimmen wie im Rat Leute zu wählen sind, in München zum Beispiel 80 Stimmen. Für solche Großstädte wie München ist es sowieso etwas überspannt, denn es führt zu einer großen Zahl von ungültigen Stimmen, der Wähler kann das gar nicht mehr beherrschen. Hinzu kommt, dass man einzelnen Kandidaten bis zu drei Stimmen geben kann. Innerhalb der CSU gab es immer wieder protestantische und katholische Kumulierungen, dadurch können also innerparteiliche Unterschiede ausgetragen werden. In München gab es bei der letzten Wahl ein Hochwählen von Frauen, das war die aktuelle feministische Stimmung, es kann also im Ergebnis ganz unterschiedliche Auswirkungen haben. In diesem System, wo sie dann diese riesigen Listen haben, kumulieren und auch panaschieren können, ist jedoch eine Bindung an den örtlichen Wahlkreiskandidaten fast völlig aufgehoben. Von daher halte ich das nordrhein-westfälische Wahlsystem mit festen Wahlkreisen für ganz vernünftig. Die Sache mit dem Kumulieren ist so ein bisschen modischer Zirkus, weil man irgendetwas Neues machen will, um modern zu sein.

Kronos: Ist einer dieser modernen Trends die immer wieder laut werdende Forderungen nach Volksentscheiden, nach Bürgerbegehren, nach stärkerer direkter Beteiligung?
Thränhardt: Das ist natürlich auch so ein bisschen Haschen nach Popularität, aber ich denke, Bürgerentscheide haben schon ihren Sinn. Sie fallen dann doch oft nicht so aus, wie man sich das wünscht...

Kronos: ...auf allen politischen Ebenen, also auch auf Bundesebene?
Thränhardt: Ich würde Bürgerentscheide auch auf Bundesebene für machbar halten, wobei es schwierig wird, wenn es in die Außenpolitik hineingeht. Es besteht jedoch eine gewisse Diskrepanz zwischen der modernistischen Art der direkten Beteiligung und den dann doch oft eben strukturkonservativen Auswirkungen. Zum Beispiel verhindert dann ein Bürgerentscheid die finanzpolitisch sinnvolle Schließung eines nicht ausgelasteten Schwimmbades. Es gilt einfach als unpopulär und wird so festzementiert, ohne dass die Stadtspitze etwas ändern kann.

Kronos: Vor einigen Monaten hat der Spiegel die Frage aufgeworfen, was heute konservativ sei. Nachdem Lord Dahrendorf jedoch einmal sagte, das 20. Jahrhundert sei ein sozialdemokratisches Jahrhundert gewesen und alle Parteien seien ein wenig sozialdemokratischer geworden, bleibt die Frage: was ist heute sozialdemokratisch?
Thränhardt: Es ist ja schon 20 Jahre her, dass Dahrendorf sagte, das sozialdemokratische Zeitalter sei zu Ende. In gewisser Weise ist das natürlich dementiert worden, denn wir haben heute ein sozialdemokratisches westliches Europa. Das, was Dahrendorf meinte, ist aber natürlich, dass die große Zeit der Sozialisierung, der einheitlichen Massenorganisation, zu Ende ist. Was sicher bleibt von der sozialdemokratischen Grundidee, ist, dass jeder Mensch eine Chance haben soll, dass jeder Mensch menschenwürdig leben soll. In Deutschland ist das weitgehend eingelöst, aber es gibt "in my lifetime" keine Chance, das in der ganzen Welt einzulösen. Gleichzeitig bleibt jedoch ein sehr starker Impuls auch in die Entwicklungspolitik aus dieser sozialdemokratischen Tradition. Was sich geändert hat und was sich ändern muss, sind natürlich die Formen, in denen das gemacht wird. Also, die große Einheitlichkeit, das Einheitsdenken, ist passé. Man muss in vielen Bereichen zu unterschiedlichen Formen kommen, man muss mehr auf die Eigendynamik von Menschen setzen, weniger auf den versorgenden Staat. Es muss nicht unbedingt alles in einem System laufen, sondern man muss in bezug auf die Systemfrage flexibler sein.


© Jörg Steinhaus 2000
erschienen in Kronos. Nr. 10. Oktober 2000. Politik. Seite 3.

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