Dabei verlief der Wahlkampf mehr als schleppend. Über Monate hinweg war das Verfahren kaum verständlich, wurde mehrfach geändert. So wollte die ICANN verhindern, dass vermeintlich unqualifizierte Personen einen der wichtigen Posten ergattern könnten. Doch Demokratie lebt davon, dass sich alle beteiligen können. Schließlich einigte man sich, die Hälfte der Direktoren zwar durch die Wirtschaft, immerhin die andere Hälfte des 18köpfigen Gremiums aber durch die Netzgemeinde zu bestimmen.
Was macht ICANN?
Es war ein für die USA ungewohnter und durchaus seltener Schritt, als Präsident Clinton 1998 die internationale Kontrolle der Internet-Bürokratie versprach. Die zuvor von der Firma Network Solutions vergebenen Internetadressen mit ".com"-, ".net"- und ".org"-Endung (Top Level Domains) sollten fortan von einer weltweit agierenden Behörde kontrolliert werden. Damit gab Clinton zum einen internationalem Druck nach, zum anderen wollten die USA aber so verhindern, dass die oberste Verwaltungsinstanz des neuen Computerzeitalters der so ungeliebten und für ineffizient gehaltenen UNO in New York unterstellt werden könnte.
Einen Nachteil hat die neue Regierung jedoch: sie ist keine. ICANN verwaltet nur die Domain-Namen und vergibt neue. Wer einmal registriert ist und eine Homepage sein eigen nennt, kann auf die Existenz der Regulierungsbehörde fast getrost verzichten. So auch die Interimsvorsitzende Esther Dyson: "Wir befinden uns in dem Dilemma, den Nutzer sagen zu müssen, wie eingeschränkt unser Aufgabenbereich ist, und sie doch davon überzeugen, mitzumachen."
Die Top Level Domains (TLD) teilen sich in zwei Gruppen. Neben den Länderkürzeln wie ".de", die von Stellen in den jeweiligen Ländern vergeben werden, gibt es die wichtige und vor allem erweiterbare Gruppe der generierten TLD, also Endungen wie ".com" oder zukünftig auch ".shop" oder ".news". Die meisten interessanten Namen bei den bisher möglichen gTLDs sind inzwischen vergeben, doch neue Firmen strömen täglich ins WWW. Somit obliegt es der ICANN hier neue Möglichkeiten zu eröffnen und in den "Root-Server A" aufzunehmen, der zentralen Adressenliste des gesamten Internets. Wer hier nicht genannt ist oder aus dem Verzeichnis entfernt wurde, ist im Internet nicht zu erreichen.
Was kostet die Welt?
Vor allem große Unternehmen drängen auf neue Adressen und sind bereit, dafür viel Geld zu bezahlen. Verbraucherschutz steht da hinten an. Denn bisher ist die Finanzierung der Arbeit von ICANN noch unklar. Während die Amerikaner eine Kostenverteilung nach der Anzahl registrierter Domains fordern, wollen die Europäer eine gleichmäßige Verteilung auf alle Länder, die das Angebot der ICANN nutzen. Zudem sehen die Europäer die Zahlungen im Moment noch eher als eine Art Anschubfinanzierung, und "nicht als eine Gebühr, der eine konkrete Leistung seitens ICANN gegenübersteht", so der Carsten Schiefner, Vorstand der deutschen Vergabestelle. Doch auch später kann die ICANN nicht nur marktwirtschaftlich vorgehen. Um die Rechte der privaten Internetnutzer zu garantieren, wird die neue Behörde mit dem Geld aus der Wirtschaft auch die Seiten der Wirtschaftsgegner bezahlen müssen. Ein ganz und gar unamerikanisches Prinzip.
Hacker an die Macht
Und letztendlich war die Wahl der Direktoren ein Experiment. Ein Beispiel dafür, wie Demokratie eines Tages im Internet ablaufen könnte – und wie besser nicht. Vorerst vergeben wurden nun erst fünf der neun von den Benutzern des weltweiten Datennetzes zu stellenden Posten, auf jedem Kontinent einer. Und dann sollten die Kandidaten auch noch von ICANN selber vorgeschlagen werden. Erst nach massiven Protesten einigte man sich, dass auch Kandidatenvorschläge aus dem Internet nach einer Vorwahl akzeptiert werden würden.
Hinzu kam das komplizierte Verfahren. Jeder potenzielle Wähler musste sich im Internet registrieren, eine e-Mail-Adresse und eine Postanschrift angeben. Nach Erhalt eines PIN-Codes per Brief erfolgte die endgültige Anmeldung im Internet. Wahlberechtigt waren zwar alle Inhaber einer e-Mail-Adresse über 16 Jahren, als Wähler gemeldet hatten sich aber nur 76.000 weltweit, von denen nachher knapp die Hälfte auch wählten. Das Wahlergebnis hingegen war eindeutig. Ein Protest gegen die Strukturen der ICANN und die Einflussversessenheit der Industrie. In Amerika wurde Karl Auerbach gewählt, der schärfste Kritiker der ICANN und zugleich ein absoluter Insider, der bei der Computerfirma Cisco arbeitet.
Und in Europa wurde der deutsche Andy Müller-Maguhn gewählt, seit 10 Jahren Sprecher des Hamburger Chaos Computer Clubs. Der CCC, als Hackergemeinschaft gegründet, versteht es seit langem, großen Unternehmen auf den Zahn zu fühlen und Sicherheitslücken aufzudecken. Müller-Maguhn sieht seine Aufgabe bei ICANN daher auch als Verbraucherschützer, als Anwalt der Internetnutzer. Der bislang kaum kontrollierbare und anarchistische Züge tragende weltweite Computerraum wird also auch weiterhin einen Hauch von Selbstverwaltung tragen, ein freies und egalitäres Netzwerk sein: "Ein allzu großer Einfluss von kommerziellen oder regierungsseitigen Interessen wäre fatal.", so Müller-Maguhn kurz vor der Wahl.
© Jörg Steinhaus 2000
erschienen in Kronos. Nr. 11. November 2000. Ausland. Seite 4.